Translate

Mittwoch, 19. Mai 2010

USA - Hochbegabt ist nicht genug


Sylvia Zinser

 
Menschen, die im Geheimtipp-Universum von Sylvia Zinser landen – in ‚Sylvia Zinser's Sammelsurium’ – müssen gegen Verlockungen kämpfen: Was darf es denn zuerst sein? Zisterzienserbrot, Lübecker Rote Grütze oder Dabrowskis Theorie? Das Angebot an Informationen, Rezepten und Tipps scheint unendlich – professionell und praxisbezogen. Autorin Sylvia Zinser schöpft aus dem reichhaltigen Fundus von Erfahrung und Wissen: Sie hat an den Universitäten Mainz, Frankfurt, Konstanz sowie an der Northeastern Illinois University/USA studiert, ist Magistra (Gifted Education), diplomierte und promovierte Physikerin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Chicago/Illinois und bietet Beratung für Familien mit begabten Kindern.

Im Interview mit der ‚Hochbegabungswelt’ spricht  Sylvia Zinser über Hochbegabung und Höchstbegabung, einen ‚Tag der Hochbegabung’, IQ-Tests sowie über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Kulturen.

Hochbegabungswelt: Wer bei Google das Wort ‚Höchstbegabung’ eingibt, erhält aktuell 12.000 Eintragungen – an erster oder zweiter Stelle kommt Ihr Beitrag über ‚Hochbegabung und Höchstbegabung’. Woran erkennt man den Unterschied zwischen hochbegabt und höchstbegabt? Und: Gibt es einen Unterschied in der gelebten Hochbegabung in Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika?

Sylvia Zinser: Mein Sammelsurium hat seinen Ursprung in den 90-er Jahren, also in einer Zeit, in der das Internet in den Kinderschuhen steckte. Seinerzeit habe ich mit einem ASCII-Browser gearbeitet, über eine langsame Modemverbindung. Meine Motivation war, dass ich online kaum Kinderlieder finden konnte. Also stellte ich selbst welche ins Netz. Seitdem hat sich die Sammlung auf eine Menge verschiedene Themenbereiche ausgeweitet, immer entsprechend meinen jeweiligen Interessen und der jeweiligen Mangelware.

Das Thema Begabung fing an, mich zu bewegen, als mein ältester Sohn mit drei Jahren anfing zu lesen (das war noch in Deutschland), und dann später, als ich mir hier in den USA zahlreiche Informationen zum Thema Hochbegabung anlas. Während meines Studiums „Gifted education“ lag es mir dann am Herzen, schnellstmöglich die Inhalte nach Deutschland zu „exportieren“ weil mir bewusst war, dass viele Kinder dort nicht hinreichend von ihrer jeweiligen Schule versorgt wurden und manche Informationen, z.B. die Theorie Dabrowskis, nicht wirklich bekannt war. Und dabei beschreibt dieses Konstrukt doch sehr genau und allgemeingültig mögliche Eigenschaften begabter Menschen. Der ECHA-Studiengang war zu dieser Zeit gerade im Entstehen und spezialisierte Lehrer sehr selten. Höchstbegabung kam dann irgendwann in mein Visier, als mein Ältester auch von unserer Begabtenschule nicht mehr hinreichend Futter bekam. Eine Internet-Recherche ergab übrigens seinerzeit insgesamt nur zwei oder drei Treffer im deutschsprachigen Raum.

Per Definition erkennt man den Unterschied zwischen Hochbegabung und Höchstbegabung am Testergebnis. Mit einem IQ über 145 ist man höchstbegabt, zwischen 130 und 145 hochbegabt. Der Unterschied von der Norm (IQ 100) ist also erst einmal eine weitere Standard-Abweichung. Im realen Leben sieht das aber oft anders aus. Nicht jeder Hochbegabte testet mit einem Ergebnis höher als 130, und nicht jeder Höchstbegabte testet über 145.

Es gibt allerdings noch andere Indikatoren. Generell würde ich für Erwachsene (und ältere Kinder) sagen, dass je höher die Begabung, desto mehr oder desto intensivere Idiosynkrasien hat eine Person. Diese individuellen Merkmale können ganz verschieden aussehen. Die einen sind ungeheuer empfindlich gegenüber Sinnesreizungen (Lärm, Geschmack, usw). Die nächsten sind sehr kreativ oder musikalisch. Andere Menschen haben eine ungeheure Betonung auf ihre Individualität. Wieder Andere haben einen Durchhaltewillen und Fokus auf ihren Beruf oder ihr Projekt. Viele Höchstbegabte haben Interessen nicht nur in einer Richtung, sondern in komplett verschiedenen Bereichen. Hochbegabung heißt auch analytische Denkfähigkeit. Dinge werden intensiver durchdacht und hinterfragt, als es die Umgebung tut.

Bei dieser Gelegenheit nimmt ein hochbegabter Mensch auch sich selbst unter die Lupe – manchmal bis hin zu Selbstzweifeln, oder sogar Depression. Höchstbegabung ist ein Gesamt-Persönlichkeitsbild. Mehrere dieser beschriebenen Eigenschaften kommen zusammen und können sogar auf eine Höchstbegabung hinweisen, wenn kein eindeutiges Testergebnis vorliegt. Annemarie Roeper, eine der hiesigen Pionierinnen zum Thema geht sogar weiter und hat ein eigenes Verfahren entwickelt, das auf Beobachtung der Person beruht. Sie scheint in der Lage zu sein, mit ihrer Methode Hochbegabung auf ein paar wenige Prozentpunkte genau zu bestimmen (Dieselben Probanden wurden später einem regulären IQ-Test unterzogen).

Es gibt Psychologen, die ausserdem behaupten, dass mit der Begabung die Asynchronie steigt oder auffälliger wird. Ich denke, dass stimmt für eine Menge höchstbegabter Kinder; bei Erwachsenen kann sich das aber wieder ausgewachsen haben.

Nicht jeder Höchstbegabte ist ein Überflieger im akademischen Bereich. In den USA sind sehr viele Schulabbrecher hoch- und höchstbegabt. Sie kommen einfach nicht mit dem System zurecht und das System nicht mit ihnen. In diesem Zusammenhang findet man oft, dass Hochbegabte ihren eigenen Rahmen, ihre gesellschaftlichen Barrieren sprengen, Dinge tun, die „man“ nicht tut.

Frauen sind oft nicht ganz so auffällig, weil zur typischen Geschlechterverteilung auch ein Streben nach Harmonie mit der Umgebung gehört und zahlreiche hochbegabte Frauen sich der normalbegabten Umgebung anzupassen suchen, sich selbst dabei allerdings verleugnen.

Generell kann man sagen, dass die Bevölkerung der Hoch- und Höchstbegabten ungefähr so divers ist wie die Allgemeinbevölkerung.

Der Übergang ist fließend, die Höchstbegabung nicht klar von der Hochbegabung getrennt. In manchen Forschungsarbeiten ist ein IQ-Bereich bis 145 als „ideal“ definiert: Menschen in diesem Bereich haben weniger Schwierigkeiten mit der Anpassung an die Umgebung. Auffälligkeiten z. B. im sozialen Bereich treten vermehrt bei höherem IQ, also bei den Höchstbegabten auf.

Zum Thema Leben in den USA als hoch- oder höchstbegabter Mensch: Einen Vergleich für Erwachsene zu stellen ist schwierig. Aber ich denke, es gibt einen Grund dafür, dass Menschen von Deutschland in die USA auswandern: „The American Dream“ - die Chance, sich selbst zu verwirklichen, irgendwann mitten im Leben seine Karriere völlig umzukrempeln, neu anzufangen, alles das ist üblicher in den Staaten. Karriere ist organisierter in Deutschland und ein plötzlicher Wechsel wird von Arbeitgebern oft nicht als positiv angesehen.

Auf der anderen Seite ist die Universitätsausbildung in Deutschland immer noch hochwertiger – mehr auf unabhängiges, selbstständiges Denken ausgerichtet. In den USA gibt es an renommierten Universitäten zum Teil multiple-choice Tests in Physik – ein Test-Typus, der in unserem Studium undenkbar gewesen wäre. 

Jugendliche und junge Erwachsene werden zu Spezialisten ausgebildet, aber das Gesamtbild zu sehen, lernen sie nicht unbedingt. Hochbegabte sollen und wollen aber genau das: eine Ausbildung, die ihnen Perspektiven öffnet, sich über Grenzen erheben zu können, die ihrer Multipotentialität gerecht wird.

Meine Gegenüberstellung von der Ausbildung in den USA und in Deutschland ist natürlich etwas unfair, da ich die Ausbildung aus den 80-ern in Deutschland mit der heutigen in den USA vergleiche. In zwei Jahren, wenn mein Ältester seine ersten Semester in Deutschland hinter sich hat, kann ich ja noch einmal einen Vergleich tätigen...

Hochbegabungswelt: Sie praktizieren bzw. lieben Sport, Musik, Politik und Literatur. Und Sie wissen, an welchen Items Hochbegabte/Höchstbegabte zu erkennen sind – aus Ihrer Sicht: Welche weltbekannten Promis aus Sport und Musik, Politik und Literatur sind besonders hoch begabt?

Sylvia Zinser: Oh weh... Das ist eine ganz schwierige Frage für mich, da ich Menschen eigentlich nur aus der Nähe, im direkten Kontakt einschätzen kann.

Meine Informationen kommen entweder aus dem Radio oder der Zeitung, kaum aus dem Fernsehen, was die Einschätzung von Promis erst recht erschwert. Barack Obama halte ich für hochintelligent, nicht weil ich mit seiner Politik 100% übereinstimme aber weil er Grenzen überspringt, zum Beispiel in der Auswahl seiner Mitarbeiter. Die USA-weit bekannte Chicagoerin Oprah scheint auch sehr weit oben auf der Skala zu stehen mit ihrem Einfühlungsvermögen und Engagement gegenüber den verschiedensten Menschengruppen und ihrem Interesse an völlig unterschiedlichen Themen.

Sally Edwards (Triathlon) halte ich für sehr intelligent; auch sie sprengt Grenzen in ihrem Bereich. Eines ihrer Ziele ist es, Frauen für den Sport zu begeistern, die sich selbst erst einmal nicht für athletisch halten. Auf den von ihr organisierten Rennen sieht man schwergewichtigere Damen, die erfolgreich zum Hobby-Sportler mutieren. Letzter wird bei diesen Rennen aber niemand, weil Sally Edwards diesen Platz für sich selbst beansprucht. Um im Triathlon zu bleiben: Auch Faris Al-Sultan gehört in die Kategorie der Grenz-Überschreiter und Freigeister, die Neues probieren, kreativ mit ihrem Beruf umgehen und sich ständig weiterentwickeln und doch ziemlich genau wissen, was sie tun.

Frank Schirrmacher wäre ein Beispiel aus dem Medienbereich mit seiner informierten Kritik an den elektronischen Medien und ihrem Gebrauch, Kritik an Gegebenheiten, die die Bevölkerung einfach hinnimmt und akzeptiert.

Ich habe jetzt einige wenige Menschen gelistet, die sich über ihre eigenen Grenzen oder die von der Gesellschaft vorgeschriebenen Barrieren hinweggesetzt haben. Natürlich ist diese Liste alles andere als komplett. Auch traue ich mir nicht zu, eine genaue Abschätzung des IQ einer Person zu wagen oder in der Beurteilung die Grenze zwischen Hochbegabung und Höchstbegabung zu ziehen – und erst recht nicht auf die Entfernung.

Hochbegabungswelt: Wie erkennen hochbegabte Erwachsene, ob sich ein Weg zum Psychologen – zur Psychologin – lohnt, um sich testen zu lassen? Gibt es so etwas wie „sichere/harte Fakten“ und so etwas wie „weiche Fakten“ im Hinblick auf die Sicherheit, hochbegabt zu sein? Und: woran wird Höchstbegabung erkannt?

Sylvia Zinser: Ein guter Indikator sind hochbegabte Eltern, Geschwister oder Kinder. Gemäß Statistik weichen Verwandte ersten Grades um höchstens 10 oder 15 IQ-Punkte voneinander ab. Das stimmt natürlich nicht immer; sobald Lernbehinderungen oder -Schwächen dazukommen, kann der IQ wieder enorm schwanken. Aber eine gute Faustregel ist es schon. Es ist sehr gängig, vor allem bei Müttern (daheimbleibenden Elternteilen), dass sie ihre Kindheit retrospektiv analysieren, wenn ihr Kind als hochbegabt getestet worden ist. Eigene Charaktereigenschaften werden entdeckt, die mit dem Wesen des Kindes übereinstimmen und unweigerlich kommt der Vergleich, das Gefühl des nie dazugepaßt Habens, und irgendwann die Frage nach der eigenen Begabung.

Es kann sich dann negativ auf Eltern und Kind auswirken, wenn Eltern dann versuchen, das, was sie selbst nicht hatten über ihr Kind auszuleben; das muss aber so nicht sein. Es kann aber auch ein Freiwerden für den beschriebenen Vater, die beschriebene Mutter bedeuten, so dass sie den Mut finden, ihre eigenen Grenzen zu hinterfragen.

Schulerfolg kann auch ein Indikator sein. Mäßige Noten hingegen schließen eine Hochbegabung nicht aus. Das bekannteste Beispiel hierfür ist Albert Einstein, der in der Schule nicht zu den Ersten gehörte.

Die weicheren Faktoren habe ich ja oben bei der ersten Frage schon beschrieben; diese sind aber nicht wirklich einfach an der eigenen Person zu erkennen; Menschen halten eigene Sensibilität für normal, werden also z.B. eine Lärm- oder Geruchsempfindlichkeit nicht sofort mit Hochbegabung verbinden sondern vielleicht sogar als lästig. Intelligente Menschen fühlen sich oft angezogen von anderen intelligenten Menschen und in sofern fallen Idiosynkrasien im Freundeskreis dann nicht so sehr auf.

Ein sicheres Erkennen einer Höchstbegabung oder Unterscheiden zwischen Hochbegabung und Höchstbegabung ist wirklich nur mit einem Test möglich. Ein Problem ist, dass die in Deutschland gängigen IQ-Tests einen Höchst-IQ von 155-160 vorsehen, höhere IQs also nicht getestet werden können. In Einzelbereichen der Tests können für eine höchstbegabte Person dann schon einmal die Fragen ausgehen, was den Gesamt-Wert senkt.

Die Person ist also in Analogie beim Springen an die Decke angestoßen, und wenn man alle verschiedenen Sprünge zusammenaddiert, ist die Gesamt-Sprunghöhe zu niedrig ausgefallen. Beim Testen sollte man sich deshalb auch jeden Untertest anschauen und nicht nur die Gesamtsumme.

Tests in den USA gehen theoretisch weiter hinauf. Ich denke, dass die gängigen IQ-Tests sowohl in den Staaten als auch in Deutschland die Anzahl der höchstbegabten (und hochbegabten) Menschen unterschätzen. Meinem Gefühl nach ist auch die Glockenkurve der Begabung nicht wirklich eine Glockenkurve, weil es mehr Höchstbegabte zu geben scheint, als die Gauß-Statistik erwartet. Das wäre eigentlich einmal ein interessantes Forschungsprojekt.

Der Weg zum Psychologen oder zur Psychologin ist vor allem dann notwendig, wenn Probleme auftreten, zum Beispiel das Selbstwertgefühl leidet, sich obsessives oder Suchtverhalten entwickelt, oder wenn ein Erwachsener nicht weiß, warum er Schwierigkeiten hat, mit seiner Umgebung umzugehen oder wie er seinen Weg im Leben finden kann.

Das ist allerdings eine gewaltige Barriere für Viele – ein Besuch beim Psychologen ist in Deutschland wie in den USA mit einem Stigma behaftet. Eine Möglichkeit, diese Barriere zu verkleinern ist es, einen Mensa-Test durchzuführen zur Grobeinschätzung der eigenen Intelligenz. Wenn in der eigenen Umgebung auch noch eine aktive Mensa-Gruppe arbeitet, hat man eventuell zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: man weiß um seine eigene Hochbegabung und kann Menschen treffen, die einen vielleicht besser verstehen. Einen Psychologen sollte man allerdings immer noch aufsuchen, wenn die Probleme fortbestehen, hat aber dann schon eine Idee, warum man Probleme hat.

Hochbegabungswelt: In Foren klagen hochbegabte Erwachsene, dass sie mit Nachteilen zu kämpfen haben, wenn andere Menschen – Kollegen, Nachbarn – wissen, dass sie hochbegabt sind. Aus Ihrer Erfahrung: Ist dies nur in Deutschland ein Problem – oder gibt es diesen Neid-Faktor auch in den USA?

Sylvia Zinser: Auf die Gefahr hin, jetzt auf verschiedene Füße zu treten: Ich halte es nicht für geschickt, wenn Erwachsene ihre eigene Hochbegabung erwähnen, es sei denn gegenüber sehr engen Freunden. Die meisten Menschen verstehen unter Hochbegabung „höhere Intelligenz“, und nichts weiter. Das klingt nach einem Gold-Schatz, einem erstrebenswerten Gut. Dass dieser Schatz nicht ohne ein enormes Gewicht daherkommt, verstehen nur Experten; Nicht-Experten verstehen nicht, was in ihren hochbegabten Nachbarn vorgeht und werden neidisch auf das Äußerliche.

Ich weiß nicht, ob Neid nur direkt mit Hochbegabung oder auch mit Erfolg, mit Selbstverwirklichung des hochbegabten Menschen zu tun hat. Mit Erfolg meine ich jetzt nicht äußerlichen Reichtum sondern eher innerlichen: Eine Freude am eigenen Tun, eine Zufriedenheit während der Nachbar vielleicht in einem unerwünschten Job malocht. Auf der anderen Seite gibt es äußerlich erfolglose Hochbegabte und da könnten Nachbarn und Bekannte die Frage stellen, warum sie denn nicht reicher sind, wenn sie doch so schlau sind – aus dem Neid wird Schadenfreude.

Die Hochbegabung kann nicht einzeln gesehen werden sondern nur im Zusammenhang mit der Gesamtpersönlichkeit. Es gibt Untersuchungen, die besagen, dass der Prozentsatz der introvertierten Personen mit dem IQ steigt. Von Nachbarn werden introvertierte Menschen gerne als nicht sozial angesehen, was dann mutiert in „der hält sich wohl für was Besseres“ und zu „Naja, er ist halt hochbegabt“. Das ist aber international, denke ich, und in den USA genauso zu finden wie in Deutschland.

Im Vergleich Deutschland gegenüber USA meine ich, dass die frühe Förderung von Kindern hier üblicher ist. Kindergärten und Vorschulen gehen hier mit dem Alphabet und den Zahlen genauso um wie mit Spielsachen – Kinder dürfen sich damit beschäftigen, wenn sie möchten. Neid gegenüber Kindern oder den Wettbewerb, welches Kind früher liest habe ich hier wenig erlebt; dieser Neid ist im Bereich des Sports eher üblich, wenn der Freund des eigenen Kindes in die Football-Mannschaft der Schule aufgenommen worden ist, aber das eigene Kind nicht.

Hochbegabungswelt: Hochbegabung etwas weiter betrachtet – unter Einbeziehung der hochbegabten/höchstbegabten Kindern – welches sind die Probleme, die den Hochbegabten heute vor allem unter den Nägel brennen?

Sylvia Zinser: Es gibt inzwischen mehr Lehrer, die sich der Thematik bewusst sind, als es von 9 Jahren gab. Es gibt eine Reihe Grundschulen, die sehr gut mit Hochbegabten umgehen, ihnen Projektarbeit anbieten, sie nicht durchgängig als Hilfslehrer anstellen, sondern ihnen Extrafutter geben. An solchen Schulen können diese Kinder sich wohlfühlen. Was meiner Meinung nach aber noch vernachlässigt ist, ist, dass Hochbegabung ja nicht pur akademisch ist. Diese Kinder sind oft ganz eindeutig „anders“, z. B. sammeln und identifizieren Käfer vom Gras während die Mitschüler Fußball spielen. Es ist oft schwierig für hochbegabte Kinder, Freunde zu finden, die gleiche oder ähnlich intensive Interessen haben. Manchmal fühlen sich diese Kinder wie vom anderen Stern.

Ich halte es für wichtig, dass hochintelligente Kinder um ihre Hoch- oder Höchstbegabung wissen und lernen, was damit alles im Kombipack kommen kann. Nur dann können sie ihre Gefühle und Besonderheiten den Klassenkameraden gegenüber verstehen. Im gleichen Zusammenhang müssen Kinder auch die Chance haben, Gleichgesinnte zu treffen. Wenn Schulen einzelne Unterrichtsstunden für die „schnelleren“ Kinder anbieten könnten, wäre schon viel geholfen. Mehr Aufwand braucht es natürlich für die kleine Gruppe der Höchstbegabten, weil diese in der Sichtweise vieler Lehrer und Schulleitungen nicht existieren. Eine meiner Professorinnen an Northeastern hat es einmal so ausgedrückt: Ein Kind mit IQ 160 empfindet eine Begabtenklasse mit Kindern um IQ 130 genauso wie ein Kind mit IQ 130 eine Regelschulklasse empfindet. Vor allem Eltern müssen sich wirklich querlegen, um für diese Kinder Freunde, Mentoren, oder Brieffreunde zu finden.

Ansonsten gibt es noch die Gruppe Kinder, die nicht als hochbegabt testet, aber sehr klar alle Merkmale hochbegabter Kinder zeigen. Wenn Schulen zum Beispiel schon ab einem gemessenen IQ von 120 genauer hinschauten und diesen Kindern Extra-Futter anböten, wäre ihnen geholfen. Ich lese immer wieder, dass Schulleitungen und Lehrer noch zu sehr auf die magische 130 fokussieren, ohne den Test genauer unter die Lupe zu nehmen. In jedem Schulamt sollte jemand beschäftigt sein, der diese Tests lesen kann, analysieren kann, ob vielleicht eine Teil-Hochbegabung vorliegt, oder eine Lernschwäche.

Dabei haben solche „ungleichmäßigen“ Kinder noch mehr Schwierigkeiten, ins System zu passen. Sie verwenden einen Teil ihrer Intelligenz zum Kompensieren ihrer Schwäche(n), an Tagen, an denen sie damit erfolgreich sind, schieben sie ihren Erfolg oft auf äußere Faktoren (Glück, nette Lehrerin, etc.) während sie Misserfolg alleine sich selbst zuschreiben. Diese Kinder brauchen jemanden, der ihre Asynchronie versteht, die Stärken fördert, aber die Schwächen nicht ignoriert sondern mit dem Kind plant, wie es sich weiterentwickeln kann.

Und zuletzt: Eltern dürfen nicht von ihrer Umgebung verdammt werden, weil sie ihre Kinder fördern. Eltern tun genau das Richtige: sie geben ihrem Kind geistiges Futter. Mit elterlicher Förderung kann man das Lernen von Fakten vielleicht etwas beschleunigen, aber nicht so, dass aus einem normalbegabten Kind ein Mathe-Genie wird.

Hochbegabungswelt: Was sollte aus Ihrer Sicht getan werden? Was erwarten Sie persönlich von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Kirchen?

Sylvia Zinser: Ich halte es hier mit der Bibel – genauer mit dem Talente-Gleichnis. Ein Mann gibt seinen Dienern verschiedene aber gewaltige Geldsummen (Talente) zum Verwalten. Zwei benutzen das Geld, handeln und handeln weiter bis sie das Doppelte erwirtschaften. Der Dritte vergräbt seinen Anteil in der Erde. Alle Menschen haben verschiedene Talente in verschieden intensiver Ausprägung. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, diese Talente zu benutzen, zu vermehren. Talente sollten nicht ungenutzt im Keller vergraben sein sondern zum Nutzen der eigenen Familie, der Wirtschaft, des eigenen Landes, der Menschheit eingesetzt werden.

Talente können aber nur blühen, wenn Kinder im Kindergarten oder der Schule auf ihrer Stufe arbeiten können, wenn Kinder und Jugendliche sich in langfristige Projekte vertiefen können, wenn die Schule von ihnen fordert, dass sie in die Tiefe denken, Zusammenhänge analysieren, neue Wege gehen, evaluieren, was sie tun und somit lernen eigenständig Probleme zu finden, anzugreifen und zu lösen. Dieses sind Lernziele, die nicht per Multiple-Choice abgefragt werden können.

Ich möchte nicht den Sinn und Zweck von PISA abstreiten, aber Schulen dürfen nicht mit dem Ziel der besseren Test-Statistik unterrichten (Das ist hier in den USA noch extremer). Es gibt so wenige Hochbegabte, dass eine Förderung statistisch irrelevant wäre.

Also, was sollte die Wissenschaft tun? Die Definitionen müssen überarbeitet werden. Ein IQ-Test ist nicht alles, es gibt weitere Wege, Hochbegabte zu finden, von Eltern-, Selbst- und Lehrernominierung bis zu kultur-unabhängigeren Tests. Auch sollten wieder Tests entwickelt werden, die über IQ 160 messen. Mir ist die statistische Schwierigkeit dessen bewusst, aber ich halte es für notwendig. Ein Konzept ist leider nur dann beweisbar und somit vor der Bevölkerung vertretbar, wenn es messbar ist.

Die Schulpolitik sollte ein Recht auf Förderung für Hochbegabte verankern und dafür auch Finanzen zur Verfügung stellen. Manche Maßnahmen wie einfache Akzelerierung sind ja noch nicht einmal teuer und sind laut Forschung normalerweise effektiv.

Die Wirtschaft könnte für Kinder und Erwachsene Projektmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Es wäre schön, wenn hochbegabte Menschen eine Möglichkeit hätten, Forschungsideen zu verfolgen, Kinder im Rahmen von Wettbewerben wie Jugend Forscht, Erwachsene vielleicht in ihrer Freizeit.

Auch sollten Wirtschaftsbetriebe Karrierewechslern offener gegenüberstehen und das nicht als Minus im Lebenslauf vermerken.

Hochbegabungswelt: Welchen Beitrag könnte ein jährlich stattfindender „Tag der Hochbegabung“ leisten? Wer sollte ihn ins Leben rufen und begleiten?

Sylvia Zinser: In den USA gibt es ja eine unglaubliche Vielzahl von designierten Tagen („Rede-wie-ein-Pirat-Tag“, „Umwelt-Tag“, „...-Gedenk-Tag“, etc). Ein Tag der Hochbegabung, wenn initiiert, darf nicht untergehen. Eine Möglichkeit wäre es, einen solchen Tag zur Fortbildung von Lehrkräften zu nutzen. Eine andere, Ausstellungen von Werken Hochbegabter zu organisieren.

Eine solche Ausstellung kann dann Kunstwerke, Gedichte neben Forschungsarbeiten beinhalten. Wirkungsvoll ist ein solcher Tag aber nur, wenn die Medien mithelfen, für die Verbreitung zu sorgen und wenn Wirtschaftsbetriebe und Stadtverwaltungen Begabten als Sponsoren zur Seite stünden. Die Künstler, Autoren und Forscher müssten dann allerdings bei ihren Werken und Arbeiten stehen, um ihre Motivation zu erklären, mit Besuchern zu interagieren und sie in Gespräche zum Thema zu verwickeln, zu zeigen, dass sie genau wie jeder Andere Menschen mit Gefühlen, Interessen und Vorlieben sind. Nicht jeder Hochbegabte hätte Interesse, Beiträge zu leisten, aber derartige Ausstellungen wären ein Weg, Brücken zu bauen und Vorurteile abzubauen.

Besser als eintägige Veranstaltungen wären allerdings feste Foren, Treffs oder Cafes, wo man als begabte Person willkommen ist, hin und wieder Werke und Ideen vorstellen kann, vielleicht einfach nur ausspannen kann und mit anderen Gleichgesinnten klönen kann. Diese müssten das gesamte Jahr über oder zumindest regelmäßig offen sein, und rotierend Werke und Projekte von Anwesenden vorstellen. Ich würde aber natürlich nicht verlangen wollen, dass z.B. Autoren ihren IQ-Test mitbringen. 

Generell sollte das Ziel sein, Begabungen aller Art zu zelebrieren.

Seit einigen Jahren gibt es hier in den USA das Davidson Institute for Talent Development. Diese Organisation, gegründet von einem Ehepaar, das sein Software-Imperium verkauft hat um signifikante Geldsummen in die Förderung Höchstbegabter zu stecken. Jährlich finden Treffen statt, Kinder kommen zusammen und spielen Brett- und andere Spiele miteinander. Komplett nicht-soziale Kinder fügen sich plötzlich in eine Zufallsgemeinschaft ein, wie man es nicht erwartet hätte. Eine ähnliche Organisation in Deutschland wäre ein mögliches Modell zur Förderung Höchstbegabter.

Hochbegabungswelt: Kaum vorstellbar – aber auch Sie werden hin und wieder Zeit zum Träumen haben: Von was träumen Sie – was wünschen Sie sich für Ihr Leben? Welche Visionen haben Sie?

Sylvia Zinser: Meine Talente in verschiedenen Richtungen zu verwenden. Wieder Gesangsunterricht zu nehmen. Triathlon zu coachen. Eine Schule für jüngere Hochbegabte zu gründen, wenn wir wieder aus den USA nach Deutschland zurückkehren. Für Ironman Kona zu qualifizieren. Und die Zeit für all das zu finden :)

Herzlichen Dank.

Das Interview mit Sylvia Zinser führte Lilli Cremer-Altgeld für die Hochbegabungswelt.

Kontakt:
Dr. Sylvia Zinser
szinser@zinser.no-ip.info
http://tinyurl.com/SZ-sSammelsurium
http://tinyurl.com/ZinserHochbegabung